05.09.2022

Von Wasser und Hefen

Mehr als eine Brauerei | Vom Sauerbier-Hype zum integralen Unternehmen: Zu den schillerndsten Vertretern moderner Farm­house-Brauereien gehört Jester King in Austin, Texas. BRAUWELT-Autorin Sylvia Kopp reiste in den südlichen US-Bundes­staat und sprach mit Gründer und Brauer Jeff Stuffings. Sie entdeckte einen tollen Ort, einzigartige Biere und engagierte Farmer – eine harmonische Einheit aus Zeit, Ort und Leuten, bei der das Bier nach wie vor die Hauptrolle spielt.

„Turn around, don’t drown“, empfehlen Straßenschilder an der Fitzhugh Road, die vom Highway US-290 ins Texas Hill Country führt – eine Karstlandschaft aus Kalk- und Granitböden, buckligen Hügeln, Gras- und Buschland mit immergrünen Virginia-Eichen. Alles deutet auf ein eher trockenes Klima hin. Doch wenn es hier regnet, dann in Kaskaden aus feuchten Luftmassen, die vom mexikanischen Golf herziehen. So wie an dem Tag, als ich mit dem Mietwagen von der texanischen Hauptstadt Austin zur Jester King Brewery & Farm fahre – 40 Kilometer mit dem Scheibenwischer auf Hochtouren und der Nase an der Windschutzscheibe. Zum Glück versperrt mir kein reißender Bach den Weg; heilfroh erreiche ich mein Ziel. Immerhin habe ich zwei Jahre darauf gewartet. Irgendwas war 2020 dazwischengekommen …

Wirkt wie eine Steampunk-Kulisse, ist aber echt: Unter dem antiken Eisenträgergerippe stehen die 35-hl-Brauanlage und einige Fermenter (Foto: Jester King)

Während es draußen prasselt, sitze ich mit Gründer und Brauer Jeff Stuffings im angenehm trockenen Meeting-Raum, der sich im Obergeschoss des Brauhauses befindet. Ein großes Fenster eröffnet den Blick ins Innere einer ehemaligen Maschinenhalle: Glänzende Gärtanks stehen hell erleuchtet Spalier vor dem Sudhaus aus Stahl, das an der gegenüberliegenden Giebelwand thront. Unter der Konstruktion aus rostroten Eisenträgern und mattgrauer Wellblechverkleidung wirkt die 35-hl-Brauanlage wie eine kunstvolle Steampunk-Kulisse. Jeff hat das alte Eisengerippe mit seinem Bruder und Mitgründer Michael Steffing 2009 in Südtexas entdeckt, abmontiert und hier wiedererrichtet. Der alte „Machine Shop“ beherbergt zudem einen „Barrel Room“ mit einigen Foudres und hunderten von Bieren im Fassausbau sowie einer „Bierbibliothek“ mit Rückstellproben aller jemals gebrauten Jester King-Biere. Ganz oben unterm Dach mit bunten, bleiverglasten Fensterklappen ringsherum liegt das kupferne Kühlschiff. Kein Zweifel, dass es sich hier um eine Kultstätte für Umgebungshefen handelt.

Pionier der Spontangärung

Schon früh hat sich die 2010 gegründete Brauerei der gemischten und spontanen Gärung verschrieben. In Texas waren sie damit die ersten. Um „House-Flavour“ und Terroir ins Bier zu bringen, zogen sich die Brauer ihre eigene Mischkultur heran. „Wir nennen sie ‚Mother Culture‘“, so Jeff – ein Mix von Hefen aus Spontangärung und wilden Agarita-Beeren sowie aus Bieren der nordfranzösischen Brasserie Thiriez und der belgischen Brasserie Dupont. Während die Jester King-Brauer anfänglich noch Saisonhefe verwendeten, verbannten sie 2013 die Reinzuchthefen gänzlich von der Farm. Im selben Jahr nutzten sie auch erstmals das Kühlschiff. Die ersten komplett spontan vergorenen Biere erschienen aufgrund der langen Reifung drei Jahre später auf dem Markt.

So entstand ab 2016 ein regelrechter Hype um die Helden, die den „Funk“ nach Texas brachten. Die Brauerei wurde zum Pilgerort für die internationale Beer-Geek-­Gemeinde. Doch auch Einheimische standen Schlange: „Ich war angenehm überrascht, dass uns die Leute von hier so stark unterstützt haben“, so Jeff. Waren die Austinites doch nur klassische Braukunst gewöhnt wie beispielsweise die englischen Ales von Real Ale Brewing oder die deutschen Bierstile von Live Oak Brewing, beide in den 90ern gegründet. Interessanterweise sind die texanischen Biertrinker weitestgehend isoliert von Importen. Aufgrund von jährlichen Lizenzgebühren in bis zu fünfstelliger Höhe können es sich kleine bis mittlere Brauereien aus anderen Bundesstaaten und Ländern kaum leisten, ihre Biere in Texas zu vertreiben. Umso exotischer muss Jester Kings Franco-Belgo-Style den Texanern vorgekommen sein. Fluch oder Segen – es gehört zu Jeffs Vorstellungen von einer richtigen Farmhouse-Brauerei, etwas völlig Eigenständiges zu produzieren.

Jester King stellt u. a. komplett spontan vergorene Biere her. Es be­ginnt wie bei den Lambic-Brauern unterm Dach: Im Kühlschiff infizieren Umgebungshefen die Würze (Foto: Kopp)

2600 Hektoliter Bier verkauft die Jester King Brewery jährlich. Sie arbeitet ohne Standardsortiment, bietet stets wechselnde Sorten an sowie einige Favoriten in lose wiederholter Auflage. Beispielsweise das tropisch-fruchtige, geschliffen-saure „Wunderkind“ (5 Vol.-%), eine Mischung aus einem jungen, hopfigen Farmhouse Ale und einem fassgereiften Bier aus Spontangärung, kaltgehopft, anschließend in der Flasche konditioniert; den WBC-Gold-Gewinner „Artrial Rubicite“ (5,8 Vol.-%), ein fassgereiftes Wild Ale refermentiert mit Früchten, das mit tieffruchtigem und trockenem Geschmack erfreut; oder „Modern Science“ (8 Vol.-%), ein fruchtig-erdiges im Foudre fermentiertes Farmhouse Ale, mit gealtertem Hopfenplasma (flüssige Hopfenterpene!), im Whirlpool gehopft und refermentiert mit frischen Pfirsichen. Der typische Jester King-Stil zeichnet sich aus durch eine trockene Struktur, schlank mit eher weniger als zu viel Volumenprozent und einer bemerkenswert geschliffenen Säure, die weich ausklingt. „Säure ist ein Element des Biergeschmacks und nicht das Ziel des Bierbrauens“, so Jeff. Der Zeitpunkt der Hopfendosage und eine konstante Temperatur um die 10 °C bei der Fassreifung seien wichtige Faktoren beim Säure-Management. Jeff achtet sehr auf eine milde Struktur, Essignoten kann er nicht leiden. Da gibt es keine Kompromisse: „Wenn ein Fass zu sauer wird, schütten wir es weg.“

Kreative Kreationen

Neben Farmhouse Ales produziert Jester King Farmhouse Stouts und unzählige Variationen komplett spontan vergorener lambic-artiger Biere. Misch- und Spontangärung, Kühlschiff, Foudre oder Stahltank, Fassausbau, Frucht-Refermentation, Flaschenreifung – diese Gärungs- und Reifungsparameter allein lassen schon unendliche Spielarten zu.

Hinzu kommen noch Variationen der klassischen Rohstoffe und lokalen Zutaten wie Kaktusfeige, Dattelpflaume, Hibiskus – um nur einige zu nennen. Die Bierbeschreibungen liefert Jeff persönlich. Er scheut sich dabei nicht, die Komplexität der Herstellung zu schildern, und hat für die Stilbezeichnung eine detaillierte Sprache entwickelt, wie hier für das Bier „Elements of Composition“: Blend of mature foudre-aged saison w/ 2 & 3 year old spontaneous fermented beer“ (Verschnitt eines im Foudre ausgereiften Saison mit 2 & 3 Jahre altem, spontan vergorenem Bier). „Ich möchte, dass die Leute verstehen, was wir machen und Lust bekommen, unsere ungewöhnlichen Kreationen zu trinken“, so Jeff.

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Die großen Holzfässer, Foudre genannt, stammen aus der Weinherstellung. Sie dienen zur Holzfassgärung mit der „Mother Culture“ (Foto: Kopp)

Was die Zutaten betrifft, betont Jeff: „Unsere Arbeit hängt so sehr vom Jahrgang ab, wie die Ernte ausfällt, welche Rohstoffe und Qualitäten wir bekommen, was überhaupt verfügbar ist …“ Während ein Chefkoch auf dem Markt das einkauft, was ihm zusagt, müssten sie es nehmen, wie es kommt: „Wir sehen dies aber nicht als Last, sondern als Luxus an. Denn das ist unser Kern. Es inspiriert unser kreatives Interesse, aus den Zutaten, wie die Landwirtschaft sie uns bietet, was Gutes zu brauen“, sagt er. Doch auch hier habe die junge Brauerei dazugelernt. „Am Anfang haben wir ausprobiert und alles verbraut, was wir finden konnten“, so Jeff. „Heute achten wir bei der Rezeptentwicklung eher darauf, was wir weglassen können.“ Das Bier, das Jester King am besten repräsentiert, ist nach seinen Aussagen „Le Petit Prince“, ein Farmhouse-Tafelbier mit Brunnenwasser, Pilsener Malz aus Texas, kalt- und klassisch gehopft mit Perle und Fuggles von der Westküste, natürliche Gärung mit heimischer Hefe – ein kleines, einfaches Bier mit großartiger Hefearomatik, das es neuerdings auch in der Dose gibt.

Brauerei, Farm und mehr

Zur richtigen Farm wurde Jester King erst, nachdem sie 2016 und 2018 Land hinzugekauft haben. Landschaftspflege und Nachhaltigkeit lauten die Prämissen, nach denen die rund 60 Hektar bewirtschaftet werden. Neben Gemüse und Obst zur Verwendung im Restaurant und in der Brauerei wird auch Hanf angebaut – Gäste können CBD-Rolls an der Bar kaufen! Eine Herde nigerianischer Zwergziegen fördert die Bodenfruchtbarkeit; sie werden nach einem ganzheitlichen Weideplan zum Grasen geführt. Die Ansiedlung heimischer Gräser auf den Weiden hilft, das Grundwasser zu halten. Überhaupt ist das Wasser die wertvollste Ressource. Und wie mir Jester King-Farmer Phil Green verrät, hat das Brauwasser Priorität. „Dry Farming“ heißt deshalb das Zauberwort – es wird schonend nur dort bewässert, wo es dringend erforderlich ist, zum Beispiel bei den jungen Obstbäumen und Weinstöcken.

Alle jemals gebrauten Jester King-Biere sind in der „Bierbibliothek“ archiviert (Foto: Kopp)

In wenigen Jahren wird Jester King Weine von eigenen Reben haben. Schon jetzt vergärt und verschneidet Jeff Trauben von befreundeten Winzereien. Die Weinherstellung ist für ihn ebenso wie die Herstellung von Cidre eine natürliche Erweiterung des Bierbrauens. Manchmal fährt Jeff auch mit „Coolship“ auf dem Anhänger zu einer Winzerei, lässt dort seine Würze einlaufen und über Nacht spontan vergären. Ach ja, nebenbei bemerkt: „Es gibt kaltgehopfte Weine“, so Jeff. Gekrönt wurden seine vielfältigen Bestrebungen 2019 mit dem Erreichen des Halbfinales für den renommierten James Beard Award in der Kategorie herausragender Wein-, Spirituosen- und Bierproduzenten.

Mit dem Farmland haben sich auch die Jester King-Geschäftsfelder erweitert: Neben Brauerei und Farm gehören mittlerweile ein Pizza- und Barbecue-Restaurant, eine Veranstaltungshalle sowie einige als Unterkunft vermietete Hütten zum Unternehmen. Auf dem Gelände lädt ein Rundweg zum Spaziergang ein, die Ziegen darf man streicheln und auf dem Weidegang begleiten, auf der Wiese befinden sich Picknickbänke nebst Kinderspielplatz. Rund 70 Angestellte arbeiten hier. „Die Brauerei ist immer noch Top No. 1 bezüglich der Einkünfte“, so Jeff. Nur bei der Popularität hat sich was verschoben: Ursprünglich sei es das Bier gewesen, das Jester King so beliebt gemacht hat, „jetzt ist es die Einzigartigkeit des Ortes, die das meiste Interesse weckt“, sagt er. Die Farmhouse-Brauerei sei zum Treffpunkt der Community geworden – Bierfestivals, Konzerte, Benefizabende, private Feiern, Farm-Tourismus. So dreht sich auch das Bierportfolio einmal mehr. Im April 2020 führte die dedizierte Sauerbier-Brauerei ein „Pure Culture-Angebot“ ein und brachte erstmals seit Bestehen ein helles Lagerbier und ein Kölsch an den Tresen. Man brauche dies, um das breite Publikum bedienen zu können.

Glücklicher Farmhouse-Brauer: Jeff Stuffings hat 2010 zusammen mit seinem Bruder Michael Steffing die Jester King Brewery gegründet (Foto: Kopp)

Eine beeindruckende Steigerung der Komplexität! Wer hätte das gedacht – nach nur einem Jahrzehnt. „Das Brauen war so vorausgeplant gewesen. Alles andere hat sich ergeben“, lacht Jeff. Seine Idee von einer Farmhouse-Brauerei sei es immer gewesen, eine harmonische Einheit aus Zeit, Ort und Leuten zu erschaffen. Das ist ihm sicher gelungen. Umso schöner, dass in dieser Einheit das Bier nach wie vor Priorität genießt und nicht zum Beiwerk degeneriert ist. Interessanterweise drängt sich inzwischen das Wasser in den Vordergrund – die feuchten Luftmassen des Golfs von Mexiko sind der Geist in den Jester King-Flaschen: „Früher dachte ich, dass das, was uns einzigartig macht, die Hefe und die Fermentation ist. Heute erkenne ich, wie sehr der Charakter unserer Biere vielmehr vom Brunnenwasser beeinflusst wird. Das Wasser stellt den einzigartigen Bezug zum Terroir dar.“

Ist dies der Anfang vom Ende des legendären Jester King-Styles? – Jeff versichert: „Wir bleiben dem Brauen mit gemischter und spontaner Gärung verpflichtet. Es braucht viel Zeit, viel Raum, vieles kann schiefgehen, und wir werden niemals ein hohes Ausstoßvolumen erreichen. Aber wir sind in bester Gesellschaft von Gleichgesinnten, mit denen wir unsere Erfahrungen und unsere Freundschaft teilen.“ In Texas Hill Country allein sind Vista Brewing und Beerburg Brewery dem Vorbild von Jester King gefolgt. Sie alle arbeiten ortsbezogen, nachhaltig, mit wilden Hefen und dem stürmischen Wasser.

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